Er wusste nicht, ob er träumte oder wach war. Der Boden unter seinen Füßen bestand aus flüssigem Sand, der in sanften Wellen pulsierte, und der Himmel über ihm war eine endlose Spirale aus Gold und Dunkelblau. Uhren hingen an unsichtbaren Fäden in der Luft, ihre Zeiger drehten sich träge, als hätten sie die Zeit längst aufgegeben.
Dann sah er ihn.
Der Fremde stand in einiger Entfernung, sein Körper halb von der fließenden Landschaft verschluckt. Er war nackt, genau so wie er. Seine Haut schimmerte wie Perlmutt im Mondlicht, seine Augen waren zwei tiefe, schattenlose Ovale. Mit einem Lächeln, das weder süß noch gefährlich war, streckte er die Hand nach seinem Geschlecht aus.
Du bist endlich hier.
Seine Stimme klang wie Wasser, das auf heißen Stein tropft, ein Echo aus Erinnerung und Erwartung. Er trat näher, seine Bewegungen schienen sich außerhalb der Logik zu vollziehen - einmal schritt er vorwärts, dann schien er plötzlich an einer völlig anderen Stelle zu stehen. Der Sand unter ihnen begann sich in Spiralen zu drehen, formte Muster, die sich für einen Moment zu greifbaren Bildern zusammenfügten, bevor sie wieder zerflossen.
Willig ließ er es geschehen, daß der Fremde ihn verführte.
Als er die Haut des Fremden berührte, war es, als ob ein Teil von ihm selbst sich auflöste und in den anderen überging. Sein Atem stockte, nicht vor Angst, sondern vor einer seltsamen, tiefen Vertrautheit. Ihr Fleisch war nicht länger fest - es wurde zu Farben, zu Formen, zu fließenden Bewegungen, die ineinander übergingen, als wäre ihr beider Körper nur eine Möglichkeit unter vielen.
Sie tanzten in der Zeit, verwebten sich in einem Kuss, der keinen Anfang und kein Ende hatte, ein Moment, der immerwährend war und doch schon längst vergangen schien. Der Geschmack von warmer Luft und fernen Gewittern lag auf seinen Lippen, während die Welt um sie herum sich verzog und neu formte.
Wer bist du? fragte er schließlich, obwohl er die Antwort längst kannte.
Ich bin das, was du vergessen hast. Und das, was du nie gewagt hast zu träumen.
Der Himmel über ihnen öffnete sich wie eine schmelzende Leinwand, und in der Ferne begann eine Uhr zu schlagen - langsam, unaufhaltsam.
Die Zeit begann wieder zu fließen.
Komm mit mir, sagte der Fremde und zog ihn tiefer in die Landschaft, wo Berge sich wie schlafende Wesen erhoben und der Horizont in flüssigen Farben pulsierte. Jeder Schritt veränderte alles, ließ neue Welten entstehen und alte verblassen.
Er hatte keine Angst. Er war angekommen, endlich und vollkommen.
Die Welt um sie herum veränderte sich weiter, als hätte sie selbst Freude daran, ihnen neue Wunder zu schenken. Vor ihnen öffnete sich ein Ozean aus Licht, seine Wellen trugen leuchtende Fragmente von Erinnerungen, die sich auf der Oberfläche spiegelten. Sie traten hinein, spürten, wie das Licht ihre Körper durchdrang, sie zu Teilen von etwas Größerem machte.
Hier endet nichts, flüsterte der Fremde. Hier beginnt alles.
Sie ließen sich treiben, ihre Körper verschmolzen mit den Farben der Ewigkeit, und die Zeit hörte auf, von Bedeutung zu sein. Die Welt war unendlich, und sie waren ein Teil von ihr.
Doch die Welt war nicht statisch. Mit jeder Bewegung veränderte sie sich, als ob ihre bloße Anwesenheit sie formte. Sie tauchten tiefer in den Ozean des Lichts, und plötzlich erstreckten sich unter ihnen Städte aus fließendem Glas, deren Türme sich ins Unendliche streckten. Durchsichtige Wesen mit leuchtenden Adern glitten durch die Straßen, jede Bewegung ein Echo eines längst vergangenen Traums.
Erkennst du es? fragte der Fremde und wies auf eine Brücke, die ins Nirgendwo führte.
Er nickte. Es war eine Erinnerung, aber nicht nur seine eigene. Sie war ein Fragment aus vielen Leben, ein Knotenpunkt der Existenz. Er sah sich selbst dort stehen, Jahrhunderte zuvor, oder vielleicht erst in einem Moment, der noch nicht gekommen war. Alles war gleichzeitig. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - sie waren eins.
Ein Lächeln huschte über die Lippen des Fremden. Wir sind mehr als nur Träumende.
Er verstand. Er war nicht nur angekommen - er war erwacht.
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