Donnerstag, 20. Februar 2025

Paul

Paul, der schon viele Jahre mein Freund war. Derjenige, der mich immer wieder anrief, der mit mir durch die schwierigen Phasen unseres Lebens ging. Der die unzähligen Gespräche über unsere Ängste und Hoffnungen mit mir teilte, während wir uns durch die Zeit als junge Männer kämpften. Aber jetzt - jetzt war er plötzlich mehr als nur ein Freund, und das machte mir Angst.

Lass uns reden, hatte er gesagt, als er mich das erste Mal nach langer Zeit anrief. Es ist schon eine Weile her. Wie geht’s dir?

Mir geht's... okay, denke ich. Warum fragst du?

Weil ich weiß, daß es dir nicht wirklich gut geht. Du kannst es mir sagen, du weißt, daß ich da bin.

Es ist nur... manchmal fühlt es sich einfach so leer an.

Seine Stimme war ruhig, aber in ihr lag etwas, das ich nicht genau benennen konnte. Ein stiller Ruf nach Hilfe, eine Bereitschaft, für mich da zu sein. Es war nicht das erste Mal, daß er sich um mich sorgte, aber diesmal war es anders. Ich wusste, daß er wusste, wie leer ich mich fühlte, wie verloren ich war. Doch es war mehr als das. Irgendetwas in mir tat sich auf, als er in mein Leben trat. Es war nicht nur seine Fürsorge, es war auch seine Nähe, die Art, wie er mich ansah, als würde er in mir lesen können, wie zerrissen ich war.

Paul: Du musst das nicht allein durchstehen. Ruf mich an, wann immer du willst. Ich komme auch vorbei, wenn du willst.

Paul war immer ein Teil meines Lebens gewesen, aber nie hatte ich ihn so intensiv wahrgenommen wie jetzt, in diesem Moment. Er stand vor der Tür, als ich öffnete, und wir schauten uns für einen Moment einfach nur an. Er war nicht derjenige, der sofort Worte fand. Stattdessen trat er einfach ein und nahm mich in den Arm. Und als er das tat, war ich zu erschöpft, um mich zu wehren. Ich ließ mich fallen, fühlte mich in seiner Umarmung geborgen - und gleichzeitig verloren. Der Schmerz war nicht verschwunden, aber es schien, als würde er zumindest in seiner Nähe erträglicher.

Du musst nicht allein sein, sagte er leise, als er sich von mir löste und mich ansah. Es waren keine leeren Worte. Es waren Versprechungen, die tief aus seinem Inneren kamen. In den folgenden Tagen kam er immer wieder. Er brachte keine aufdringlichen Ratschläge, keine hektischen Versuche, mir zu helfen, zu heilen. Stattdessen war er einfach da. Wir saßen auf der Couch, tranken still zusammen Tee oder gingen in den Park, ohne viel zu sprechen. Manchmal war es genug, einfach nur in der Nähe des anderen zu sein. Aber manchmal, in den Momenten, in denen er mich ansah, bemerkte ich, wie sich etwas in mir regte. Ein Gefühl, das ich nicht kannte. Das ich nicht wollte. Es war wie ein zartes Ziehen, das mich gleichzeitig anspornte und ängstigte.

An einem dieser Abende, als wir zusammen den Himmel beobachteten, als es so ruhig war, daß man das eigene Atmen hörte, fragte Paul: Hast du schon darüber nachgedacht, wie es weitergeht?

Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht weiterdenken. Ich war noch nicht bereit, überhaupt zu wissen, was weitergehen für mich bedeutete. Aber er ließ nicht locker.

Du bist nicht allein, sagte er wieder. Du bist nie allein gewesen.

Ich antwortete leise, fast zögerlich: Paul, ich... ich weiß nicht, was du von mir erwartest.

Paul (mit einem sanften Lächeln): Ich erwarte nichts von dir. Aber vielleicht kannst du mir einfach sagen, was du fühlst. Ich will nur, daß du dich nicht alleine fühlst.

Nach einer Pause sagte ich dann: Es fühlt sich an, als ob ich festhänge. Als ob alles um mich herum stillsteht und ich... ich weiß nicht, wie ich weiterkommen soll.

Paul: Es ist okay, so zu fühlen. Du musst nicht sofort eine Lösung haben. Lass uns einfach zusammen sein, für den Moment.

Ich wollte ihm vertrauen. Ich wollte ihm glauben. Ich dachte an die Jahre, die wir zusammen verbracht hatten, an das Leben, das wir uns aufgebaut hatten, und an den Raum, den sie jetzt in meinem Leben hinterließ. Wie konnte ich diese Leere jemals füllen? Und wie konnte ich jemandem, der so lange mein Freund gewesen war, erlauben, mehr zu sein?

Ich weiß nicht, murmelte ich schließlich. Ich kann nicht einfach nach vorne sehen. Es ist zu viel.

Paul nickte, aber seine Augen sagten mehr, als Worte es je könnten. Es war, als wüsste er, daß ich noch nicht bereit war. Doch in seinen Blicken lag kein Druck. Nur Verständnis. Und vielleicht etwas mehr. Etwas, das sich wie ein starker Draht anfühlte, der langsam aber sicher unsere Verbindung auf eine andere Ebene hob.

Es war der Anfang. Der Beginn von etwas, das ich nicht benennen konnte. Und das mir Angst machte. Aber gleichzeitig wusste ich, daß ich es nicht aufhalten konnte.

Ich habe Angst, sagte ich schließlich, fast ein wenig überrumpelt von meiner eigenen Offenheit. Angst davor, was das für mich bedeutet, was es für uns beide bedeutet. Paul zog seine Hand zurück und setzte sich aufrecht hin, seine Augen nie von mir ablassend.

Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst, sagte er sanft. Du musst dir nichts beweisen. Du darfst nur fühlen, was du fühlst.

Paul, warum... warum bist du immer noch hier? Ich weiß nicht, was du suchst.

Paul (fest, aber ruhig): Vielleicht suche ich dich. Ich will nur, daß du weißt, daß du nicht alleine bist. Und daß du mehr verdient hast als das, was du dir selbst zugestehst.

Mehr? Du meinst... daß wir... mehr als Freunde sein können?

Paul (zögert, dann ernst): Vielleicht. Aber du musst es nicht jetzt wissen. Du kannst es in deinem eigenen Tempo herausfinden.

Ich ließ mich zurück in das Kissen sinken und schloss die Augen. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht war der Moment gekommen, in dem ich mir endlich erlauben konnte loszulassen, nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von den Ängsten, die mich immer wieder zurückhielten. An diesem Abend blieb Paul noch eine Weile bei mir, und wir saßen schweigend nebeneinander. Keine Worte mehr, nur die gemeinsame Präsenz des anderen, die uns so viel mehr sagte als jede Unterhaltung. Ich hatte das Gefühl, daß ich einen Schritt gemacht hatte. Einen Schritt hin zu etwas, das ich lange gefürchtet hatte. Aber dieser Schritt führte mich nicht in einen Verrat, sondern fühlte sich an, als würde ich einfach weiterleben. Als würde mein Herz in einem neuen Takt schlagen, der nicht gegen die Vergangenheit ankämpfte, sondern sie ehrte.

Ich wusste, daß ich noch nicht ganz bereit war, alles zu akzeptieren. Es gab noch viele Zweifel und Ängste, die in mir loderten. Aber in diesem Moment erkannte ich, daß Paul nicht nur ein Freund war, der mir durch die Dunkelheit geholfen hatte. Er war mehr. Und es war an der Zeit, diese Tatsache endlich zuzulassen. Ich wusste noch nicht, wie es weitergehen würde, aber ich spürte, daß dies der Beginn von etwas war. Von einer Liebe, die sich nicht gegen die Vergangenheit stellte, sondern mit ihr zusammen existieren konnte. Ich atmete tief ein und öffnete die Augen. Paul sah mich an, als ob er meine Gedanken lesen konnte. Und für einen Moment schien es, als wären wir in einer gemeinsamen Welt, die nur uns beiden gehörte. Und in dieser Welt wusste ich, daß es eine Möglichkeit gab, sich von der Vergangenheit zu befreien, ohne sie zu verlieren. Ein leiser, aber gewisser Schritt in eine Zukunft, die ich jetzt bereit war zu betreten.

Die Zeit nach jener Nacht war von einer stillen Intensität geprägt, die mich manchmal an den Rand meiner eigenen Gefühle brachte. Ich hatte Paul nie gesagt, daß ich mir nicht sicher war, was zwischen uns war. Ich hatte nie wirklich die Worte gefunden, um zu erklären, daß ich nicht wusste, ob ich überhaupt bereit war, mich auf etwas Neues einzulassen. Doch in den Tagen nach jener Unterhaltung hatte sich etwas in mir verändert. Etwas, das ich nicht mehr ignorieren konnte.

Ich war immer noch von Erinnerungen umgeben, als würden diese in jedem Raum meines Hauses weiterleben. In jeder Ecke, in jedem Bild, das wir zusammen gemacht hatten. Doch gleichzeitig bemerkte ich, wie sich diese Erinnerung langsam zu etwas anderem wandelte. Sie wurde nicht kleiner oder bedeutungsloser, sondern eher zu einem sanften Teil meiner Geschichte, der nicht mehr das gesamte Bild dominierte. Und mit dieser Veränderung begann ich zu erkennen, daß ich in der Lage war, mehr zu fühlen. Für Paul. Für das Leben. Für mich selbst.

Wir sahen uns immer öfter. Die Gespräche zwischen uns hatten eine neue Tiefe bekommen, als ob wir uns endlich erlaubten, alles zu sagen, was wir uns bis dahin nicht zugetraut hatten. In seiner Nähe fühlte ich mich sicher. Nicht nur vor der Welt, sondern auch vor meinen eigenen Ängsten. Paul hatte nie nach mehr verlangt, nie gedrängt oder mir das Gefühl gegeben, ich müsste etwas tun, um seine Nähe zu verdienen. Aber ich spürte, daß er etwas in mir sah, das ich selbst lange nicht wahrgenommen hatte: eine Möglichkeit, wieder zu lieben.

An einem Nachmittag, als wir zusammen durch den Park spazierten, spürte ich plötzlich die Veränderung in mir, die ich so lange vor mir hergeschoben hatte. Die Bäume waren in sanftem Licht getaucht, und der Frühling hatte die Luft mit einem Duft erfüllt, der mich an eine Zukunft erinnerte, die ich lange Zeit für unmöglich gehalten hatte.

Weißt du, sagte ich, während wir langsam den Weg entlanggingen, ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, wie das Leben weitergehen könnte. Es fühlte sich immer so an, als müsste ich die Erinnerung bewahren, als müsste ich in der Vergangenheit leben, um sie zu ehren.

Paul drehte sich zu mir und nickte. Es ist schwer, nach einem Verlust weiterzumachen. Es fühlt sich an, als würde man einen Teil von sich selbst verlieren. Aber du hast auch das Recht, weiterzuleben. Du hast das Recht zu fühlen, zu lieben, zu wachsen.

Ich hielt inne, als er diese Worte sagte. Sie klangen so einfach und doch so tief.

Ich weiß nicht, wie ich das machen soll, gestand ich. Ich fühle mich immer noch so, als würde ich zwischen zwei Welten stehen. Die eine in der ich mich jetzt befinde. Und die andere, in der ich lernen muss, weiterzugehen.

Du musst keine Entscheidung treffen, die für immer gilt, antwortete er ruhig. Es ist okay, in beiden Welten zu leben. Du kannst die Vergangenheit ehren und gleichzeitig offen für die Zukunft sein. Für das, was noch kommen kann.

Diese Worte fielen wie Tropfen in ein ruhiges Gewässer und erzeugten immer neue Wellen, die sich sanft, aber bestimmt ausbreiteten. Ich spürte, wie eine Last von mir abfiel, als ich es endlich zuließ, daß ich nicht entweder die Vergangenheit oder die Zukunft wählen musste. Daß ich beide annehmen konnte. Daß ich mir erlauben konnte, in die Zukunft zu blicken, ohne die Erinnerung zu verraten.

Ich glaube, ich habe Angst, was das für uns bedeutet.

Paul: Angst ist okay. Aber du musst dich nicht vor deinen Gefühlen verstecken. Wir können das zusammen angehen, wenn du es willst.

Ich glaube, ich will. Und nach einer Pause fügte ich leise hinzu: Ich will dich.

Als wir uns später vor meiner Tür verabschiedeten, stand ich für einen Moment einfach da und sah ihm in die Augen. Es war der Moment, an dem ich wusste, daß ich bereit war. Bereit, den nächsten Schritt zu tun. Bereit, mich in einer Weise auf Paul einzulassen, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.

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