Sonntag, 24. Januar 2016

Der Roma


Am nächsten Morgen ging ich wieder zum Bahnhof Zoologischer Garten und traf dort eine Menge Bekannte. Eigentlich hatte ich bislang nicht viel mit diesen Leuten zu tun, aber wir kannten uns, weil unsere Eltern einander in der Heimat besucht hatten. Von den meisten wusste ich eigentlich nicht einmal die Namen. Doch heute fragte ich sie, was sie so trieben und wie es ihnen ginge. Viele sagten, es gehe ihnen ganz gut hier in Deutschland, fernab vom schrecklichen Bürgerkrieg. 
Einer sagte plötzlich zu einem anderen: "Schau mal, der Mann dahinten will was von dir!" 
"Was will der denn?", fragte ich den anderen. Ich wollte es unbedingt wissen und erhielt zur Antwort: "Er will mit dir gehen." 
Was sollte das um Gottes willen schon wieder heißen, "mit mir gehen"? 
Und so fragte ich zurück: "Wohin denn?" 
Da merkte der andere Junge, daß ich keine Ahnung hatte und ließ mich allein.
Als ich wieder zurück im Bahnhof war, sah ich wieder den Mann, der mich anfangs beobachtet hatte, Ich befürchtete, er sei Zivilpolizist. Schließlich stand er direkt hinter mir und klopfte mir auf die Schulter. Mir klopfte das Herz bis zum Hals und ich drehte mich zu ihm um. Ich war ganz sicher: Jetzt hat er mich! Er fragte, ob ich Zeit hätte, doch ich wusste nicht, was er damit sagen wollte. 
Daher antwortete ich: "Nein, es tut mir leid, aber ich habe auch keine Uhr." 
Doch ich hatte ihn missverstanden und er wollte, daß ich etwas mit ihm trinken gehe. Dafür hatte ich gerne Zeit. 
"Dann lass uns gehen", sagte der Mann. 
Wir fuhren zehn Minuten mit einem Taxi und stiegen bei einem Hotel aus. Zunächst ging's in ein Italienisches Restaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dort saßen wir in einer Ecke und der Kellner brachte uns zwei Speisekarten, als er fragte, was wir trinken wollten. Der Mann bestellte sich ein großes Bier und fragte mich, worauf ich Lust hätte. 
"Eine Cola." 
"Wird gemacht!" Der Kellner entfernte sich wieder. 
Mit der Speisekarte in der Hand fragte mich der Mann nun, ob ich nicht Hunger hätte und sagte, dann solle ich mir doch etwas aussuchen. Ich schämte mich, weil ich nicht lesen konnte, denn ich bin ja noch nie zur Schule gegangen. Er wollte wissen, warum und ich meinte das sei eine große Geschichte. Er wollte, daß ich sie ihm erzähle, aber ich mochte nicht, ließ es lieber bei meinen Andeutungen und er war zufrieden. Er bot mir an, die Speisen vorzulesen und ich sollte nur sagen, was mir gefällt. Als der Kellner mit den Getränken kam und die Bestellung aufnehmen wollte, waren wir gerade fertig geworden. Ich entschied mich für Spaghetti Bolognese und der Mann nahm das Gleiche, was mich zum Lachen brachte. Dann sagte er, wir hätten uns ja noch nicht einmal vorgestellt, was wir gleich nachholten, aber ich habe seinen Namen längst vergessen. 
Ich kippte die Cola in einem Zug hinunter und er lachte: "Du musst aber Durst haben!" 
Ich lachte auch und bejahte seinen Eindruck. Als der Kellner zurückkam und das Essen servierte, bestellte er noch eine Cola für mich. 
Er wollte wissen, wie alt ich sei, und als ich "dreizehn" angab und wo ich denn wohnen würde. 
"Nirgendwo", antwortete ich wahrheitsgemäß.
"Das glaube ich dir nicht..." 
Da fing ich an meine wahre Geschichte zu erzählen, daß ich von zu Hause weggelaufen war, weil es mir dort schlecht ging und er wollte wissen, warum. "Das ist jetzt egal, ich möchte bitte nicht darüber reden." 
Und er ließ mich in Ruhe. Irgendwie fand ich ihn ganz nett. Schließlich gingen wir ins Hotel auf der anderen Straßenseite und ich wollte wissen, warum ein Hotel? Er sagte mir, daß er für zwei Wochen Urlaub in Berlin sei und morgen früh wieder abreise. Dann stiegen wir in den Fahrstuhl, er drückte den Knopf für die dritte Etage, öffnete oben mit einer Chipkarte die Zimmertür und bat mich, es mir bequem zu machen.
"Fühl dich wie zu Hause." 
Ich zog die Schuhe aus und sprang aufs Bett. Er zog sich ebenfalls die Schihe aus, ging aber erst noch an den Kühlschrank um für mich eine Cola und für sich ein Bier mitzubringen. Er wollte wissen, wie lange ich schon von zu Hause weg sei und ich sagte wahrheitsgemäß: 
"Etwa zwei Wochen." Auch, daß ich in einem Heim war und wiederum von dort weglief, als man mir dort den Besuch meiner Eltern androhte. Gestern hatte ich auf dem Boden in einem hohen Treppenhaus geschlafen, auch das erzählte ich ihm. Er wollte wissen, wo ich weiterhin nächtigen würde sagte ich wüsste es nicht. 
"Bis morgen kannst du hier schlafen, aber um Zehn muss ich dich rausschmeißen, denn mein Flieger geht um elf." 
Ich bedankte mich, aber das wollte er nicht. Aber er wollte wissen, warum ich gestern weggerannt sei. Er lachte, als ich ihm erzählte, daß ich ihn für einen Zivilbullen gehalten hatte. 
"Na siehst du, ich bin kein Polizist!" 
Aber das hatte ich auch schon mitbekommen. Er wollte noch wissen, wieso ich so gut deutsch könnte und ich wusste nichts darauf zu antworten. Die Frage nach meiner Herkunft war leichter zu beantworten, auch, daß ich kein Bosniake bin, sondern Roma. Er wollte wissen, wie lang ich schon hier sei und ich sagte ihm, daß es fast zwei Jahre seien. Er fand, daß ich echt gut deutsch sprechen würde, obwohl ich keine Schule besucht hätte. Da war ich ein bisschen stolz. So haben wir bis gegen dreiundzwanzig Uhr geredet und viel gelacht. Als wir dann schlafen gingen, rückte er ganz nah an mich heran, legte den Arm um mich und auch ich umarmte ihn. Dann bin ich so schnell und tief eingeschlafen, daß ich gar nicht mehr wusste, wo ich war. 
Als ich am Morgen aufwachte, lagen wir noch immer umarmt im Bett. Auch er erwachte, wünschte mir "Guten Morgen" und fragte, ob ich gut geschlafen hätte. Das konnte ich mehr als nur bestätigen, was ihn freute. Er küsste mich auf die Stirn und wir standen auf. 
"Komm!" meinte er, "lass uns etwas frisch machen." 
Im Bad machte er die Wanne voll mit Schaumbad und ich legte mich hinein. Er fragte, ob er meinen Rücken waschen solle, was ich ganz klasse fand. Er selbst ging in die Dusche. Anschließend zogen wir uns an und gingen in die Hotelhalle zum Frühstück. Zurück im Zimmer packte er seine Koffer. In diesem Augenblick spürte ich Kummer in meinem Bauch. Er war so nett gewesen, so liebenswert und außerdem in einem Alter, daß er mein Vater hätte sein können. Er hatte überhaupt nicht verlangt, Sex mit ihm zu machen, obwohl er vielleicht schon gewollt hätte, sondern ganz einfach Liebe gesucht. Er war bestimmt zu hundert Prozent schwul, aber er ließ mich in Ruhe. Als er mit Packen fertig war, holte er seine Brieftasche heraus und gab mir 100 Euro. Ich lehnte ab, aber er bestand darauf und sagte: 
"Nimm es an, denn du brauchst es. Kauf dir doch Klamotten davon und Schuhe." 
Als ich das Geld in meine Tasche gesteckt hatte, wuchs mein Kummer immer mehr. 
"Sei doch nicht so traurig, lach mal ein bisschen!" 
Er küsste mich noch einmal auf die Stirn und sagte: "Komm, lass uns gehen." Ich ging noch zusammen mit ihm bis in die Hotelhalle, dann trennten wir uns. 
Als ich wieder alleine auf der Straße war, heulte ich wie ein Schlosshund. Viele Menschen kamen mir in Erinnerung, die ich so innig geliebt hatte. Aber das war der erste Mensch, der auch zu mir nett und lieb war.

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